Wer meine Krimis mag, der mag vielleicht auch ...

Die hier gelisteten Romane jenseits des Mainstreams sind ganz nach meinem Geschmack: originell und brilliant. Da sie nicht in den großen Publikumsverlagen erschienen sind, finden sie bei Buchhändlern und Feuilletons wenig Beachtung,

also auch nicht die Leserschaft, die sie verdienen. Zeit für ein paar Insidertipps (in alphabetischer Reihenfolge).

Anne Breckenridge: Engel der Themse

Ein Krimi, der in den Armenvierteln Londons Ende des 19. Jahrhunderts spielt, ist allemal interessant. Besonders für Leute wie mich, die der Welt der Lords und Ladies und Kaufmannsfamilien, mit denen sich die meisten Romane über das viktorianische England befassen, schon ein wenig überdrüssig ist. Hinzu kommt ein packender Plot: Neugeborene verschwinden aus der Gosse, aus den Baracken, ohne dass die Polizei sich kümmert. Ein „Schatten“ nehme die armen kleinen Wesen zu sich, so heißt es. Erst als der Sohn eines Lords zum Opfer wird, kümmern sich die Behörden und jagen vermeintliche Verdächtige wie das Kindermädchen Emma und die Prostituierte Gladys, beide 16 Jahre alt. Auf der Flucht vor der Polizei schließen sich die Mädchen zusammen und kommen dem „Schatten“ auf die Spur. 

Das Buch ist für den Homer-Preis 2017 in der Sparte Historischer Krimi nominiert. Zu Recht. Es überzeugt durch eine großartige Figurenzeichnung und plastische Szenerien, ist dabei auch stilistisch überzeugend und ausgesprochen spannend geschrieben. Ein weiterer Pluspunkt: kein dröges Who-done-it-Konzept, sondern eine ganz eigene Erzählstruktur.
(Dryas Verlag, 2016)

Lisa Graf-Riemann / Ottmar Neuburger: Steckerlfisch

 

Grusel, Spannung und Komik zu verbinden, ist eine Königsdisziplin. Und in diesem Roman voll gelungen. Hinzu kommt eine eigensinnige Sprache, die sich flüssig liest und doch ab und an erstaunt innehalten lässt, weil sie so treffsicher die skurrilen Charaktere, die atmosphärische Szenerie beschreibt.
Aufhorchen lässt auch der ungewöhnliche Plot: In einer luxuriösen Seniorenresidenz am Chiemsee geht ein „Todesengel“ um: Schwester Pia. Das Leid der Alten und Schwachen zu beenden, ist nicht ihre Mission. Auch um Geld und Vermögen scheint es ihr nicht zu gehen. Worum sonst? Die Leser ahnen es bald und doch sorgt allerlei Rätselhaftes bis zum fulminanten Schluss für Spannung. Ein sozialkritischer Blick fällt auf das Leid alter Menschen, um die sich kein Angehöriger kümmert.
Dass ein launiger Hauptkommissar auf Urlaub (mit-)ermittelt, tut der Originalität dieses Krimis übrigens keinen Abbruch, zumal ihm hyperaktive Heimbewohner ständig in die Quere kommen. Das Mysterium ist in diesem Roman die Botschaft und hält 330 Seiten lang bei enorm guter Laune.
(Emons Verlag, 2016)

Gudrun Lerchbaum: Lügenland

Der Roman spielt in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts. Europa ist zerfallen, in Österreich herrscht eine „Demokratur“: Ein mehrheitlich vom Volk gewählter Kanzler regiert dank Überwachungsmaschinerie und willfähriger Medien unumschränkt, Personenkult inklusive.

Inmitten dieser Szenerie flieht die ehemalige Soldatin Mattea Inninger vor der Polizei, weil sie am Vorabend ihrer Hochzeit eine frühere Freundin erschossen hat. Unabsichtlich zwar, doch daran glaubt niemand, auch sie selbst fühlt sich schuldig.
Dass ihre Verfolger sie aufgrund äußerer Ähnlichkeiten mit einer berüchtigten „Staatsfeindin“ verwechseln, wird anfangs zur zusätzlichen Erschwernis, doch schließlich auch zur Chance.

Gudrun Lerchbaum hat eine unglaubliche und doch überaus glaubwürdige Distopie geschrieben, eine anrührende Geschichte, hochspannend und stilistisch großartig umgesetzt.
(Pendragon Verlag, 2016)

Ralf Schwob: Büchners letzter Sommer

 

Es war ein Zufallsfund. Ich hab mir das Buch nur gekauft, weil ich mir recherehalber derzeit alles angucke, was mit Georg Büchner zu tun hat. Wollte es rasch mal quer lesen, zumal GB darin nur als Phantasiegespinst auftritt. Der Plot handelt von einer zeitgenössischen schulischen Deutsch-AG, die politisch aus dem Ruder zu laufen scheint. Quer lesen? Ging nicht. Nach ein paar Seiten war ich eingefangen. Stilistisch hervorragend, hochspannend, tiefsinnig, von einem leisen, unaufdringlichen Humor unterlegt, ein Jugendroman vom Feinsten. Vor acht Jahren ist der Band in einem Zwergverlag erschienen und so gut wie unbeachtet geblieben. Manche Bücher sind wohl einfach zu gut für diese Welt
(Ariel Verlag, 2011)

Pete Smith: Das Mädchen vom Bethmannpark

Anmesie ist ein Mysterium. Nicht nur ein medizinisches. Sie ist auch der Stoff, aus dem etliche Thriller ihr Grausen und Gruseln gewinnen. Oder sie liefert das Labyrinth, in dem ein findiger Ermittler allmählich ein Verbrechen aufdeckt. Dieser Roman hat damit nichts zu schaffen, auch wenn der Klappentext vielleicht einen Krimi nahelegt.

Hauptakteure sind:
+ Eine junge Frau, die durch einen Überfall schwer verletzt wurde, mit einer retrograden Amnesie erwacht und mit ihrer Identität ringt, zumal ihre Handtasche mit allen Ausweisen verschwunden ist und damit jeder Hinweis auf ihr Leben zuvor.
+ Ein Therapeut der behandelnden Klinik, der Amnesiekranke betreut und mit ihnen Identitäten anhand von berühmten Persönlichkeiten einübt. Alles mit dem Ziel, ihnen die eigene Persönlichkeit zu entlocken. Wobei er nach und nach an die Grenzen seiner Eigenwahrnehmung stößt.

Bei aller Spannung und Empathie: Dieser Roman ist kein „Pageturner“, und das ist auch gut so. Er schürft tief, medizinisch, psychologisch, menschlich, lässt öfter mal innehalten, zwingt zum Nachdenken. Sogar zum Zurückblättern. Besonders am Ende, das ich hier natürlich nicht verrate. So viel „Krimi“ muss sein. 

(Societäts Verlag 2016)